Zlata in Gefahr
Es war dunkel, zugig und eng um 5:30 Uhr im 73. Stockwerks des Taipeh 101.
Denn Valerie Carpentier, so Zlatas derzeitiger Deckname, befand sich nicht
in einer der vielen Suiten oder Büros die dieses einzigartige Bauwerk zu
bieten hatte, sondern im Belüftungsrohr A7464-F, welches vom 73. Stockwerk
sehr verwinkelt bis in einen Konferenzraum des 70. Stockwerkes reichte.
Im Auftrag eines großen europäischen Luffahrtkonzerns, sollte sie die
Konferenz des schärfsten Konkurrenzunternehmens mit den Chefs der größten
asiatischen Fluggesellschaften, zu einem transparenten und vor allem
hörbaren Erlebnis machen. Konkret bedeutete dies nicht weniger als 5
Hochleistungswanzen, unauffällig und für gängige Detektoren undetektierbar
in dem Konferenzraum zu plazieren.
Nahezu lautlos schob sie sich in ihrer schwarzen, enganliegengenden
Spezialanfertigung aus einem Textilfasermix, Zentimeter für Zentimeter vor.
Hätte man sie bei Licht betrachtet sah sie aus, wie ein Taucherin im
Neopren-Anzug, allerdings ohne Brille und Flossen. Eine Taucherin mit
traumhaften Körpermaßen, endlos langen durchtrainierten Beinen, Wespentaille
und elfenhaftem Gesicht. Sie mochte dieses spezielle Körpergefühl, dieses
Gefühl eine zweite Haut zu besitzen.
Jerry Y.S Yeh, seines Zeichen Junior Manager des Taipeh 101, war gegen Ende
der Nachtschicht in Gedanken nur mit dem ersten, von ihm morgen betreuten
Konferenz beschäftigt. Werden sich die Amerikaner, genauso wohl fühlen wie
die Asiaten. Schließlich könnte ein erfolgreicher Abschluß der Konferenz,
sich auch auf seinen weiteren Werdegang positiv auswirken. Um die Qualität
des Essens machte er sich keine Sorgen, hat er doch die stattlichen 110 Kg,
bei 1,84 m, nicht zuletzt den Kochkünsten seiner in der 3-Sterne Küche
angestellten Frau zu verdanken.
Hinter sich, an einer 1,50 m langen Schnur, zog sie einen mit Luftkissen
gepolsterten, kugelförmigen Sack mit allen Ausrüstungsgegenständen. Nach
endlosen Minuten und mehreren dutzend Metern Kriechstrecke, getrennt nur
durch die dünne verzinkte Außenhaut und die Deckenverkleidung von den
schlafenden Bewohner und Angestellten der Nachtschicht, kam Valerie an eine
sehr kritische Stelle. Das Hauptlüftungsrohr, mit dem Durchmesser von 3
nebeneinandergelegten Din A4 Blättern, besaß hier eine Abzweigung zum
Konferenzraum im 70. Stockwerk. Ein Normalsterblicher hätte nur seinen Arm
in diese Haarnadelbiegung bekommen, doch Valerie seit Kindergartentagen
geübt, gleitete wie eine Anaconda rückwarts nahezu 180° das Rückgrat
verbiegend in das Lüftungsrohr ein. Diese Flexibilität macht sie weltweit
einzigartig und begehrt nicht nur für diese Jobs.
Eine Armlänge entfernt vor dem Lüftungsgitter für den großen Konferenzraum
dimmt sie das Licht der Kopflampe und horcht in den Raum. Kein Geräusch
außer dem leisen Summen der Klimaanlage erregt ihre Aufmerksamkeit. Mit
einem Akkuschrauber entfernt sie die vier inneren Befestigungsschrauben des
Gitters und setzt das Nachtsichtgerät aus ihrem Ausrüstungssack auf. Das
Gitter wird gelöst und am Ausrüstungssack befestigt. Diesen lÃßt sie langsam
an einem Seil zu Boden. Dann lÃßt sie sich in den Raum fallen und rollte
sich lautlos ab.
Jerry hat nach der Erledigung einiger Routineaufgaben, wie der Beantwortung
von E-mail Anfragen, Bestätigungen von Buchungen und der Pflege der Datei
mit Sonderwünschen von besonderen Gäste, etwas zeitlichen Spielraum bis zur
Schichtübergabe gegen 7:00 Uhr. Er entscheidet sich dafür das Protokoll für
die Konferenz zum x-ten Male durchzugehen. Kurz wird er über den Hausfunk
gestört. Ein ängstlicher Gast sei durch ein Rumpeln über ihm aus dem Schlaf
gerissen worden und hat sich an der Rezeption nach der Ursache erkundigt.
Der Gast belegt ein Zimmer in Flügel F im 69. Stockwerk. Da Jerry nur wenige
Stockwerke entfernt sein Büro hat, bestätigt er sich der Sache anzunehmen.
Valerie fühlte sich etwas stocksteif nach der Zeit in der engen Röhre und
ist zeitlich mehr als im Soll. So beschließt sie sich etwas in gehobenen
Ambiente aufzulockern.
Als Plattform prädestiniert erscheint der Mahagoni-Konferenztisch der mit
mehr als 8 m Länge das zentrale Element des mit Kronleuchtern und
Echtholzvertäfelung ausgestatteten Saales ist. Hier hatten zwei komplette
Stäbe ausreichend und bequem Platz für lange Verhandlungen. Sie stellte sich
in ihrer Fantasie vor, die Delegationen sÃßen bereits an ihren Tischen und
würden ihrer Performance zusehen. Noch während Sie in der Vorstellung
verhaart führt ihr Körper eine olympiareife Choreographie wie in Trance aus.
Langsam gleitet Sie in den seitlichen Spagat, beugt sich nach vorne auf den
Bauch und legt sich dann nach hinten auf den Rücken. Fließend geht sie in
den Frauenspagat über, stützt sich mit einer Ferse an einer der hohen
Armlehnen der Konferenztische ab und erreicht spielend eine Öffnung von 270°
. Zur Lockerung des Rückens beugt sie sich aufrecht und auf den Zehenspitzen
stehend nach hinten zurück und berührt mit ihren Händen beide Knöchel von
hinten. Dann zieht sie ihren Kopf weiter durch die Beine geht in die Knie
und berührt mit ihrem Hinterkopf den Venushügel. Spontan erheben sich die
Konferenzteilnehmer vor ihrem geistigen Auge und applaudieren dieser
perfekten Choreographie und anmutigen Vorstellung. Es ist wie ein Ritual
nach einer schweren Prüfung.
Ein Ritual das mit Gewalt bei normalen Menschen durchgeführt unweigerlich
zur Ruptur wichtiger Sehnen- und entscheidender zur Trennung essentieller
motorischer Nervenbahnen führen würde. Nach zwanzig Sekunden bewegt Sie sich
langsam in die Ausgangsposition zurück, verneigt sich vor dem imaginären
Publikum, macht einen kleinen Ausfallschritt zurück und trifft unglücklich
auf einen bereitstehenden mobilen Getränkebutler, verliert das Gleichgewicht
und fällt vom Tisch auf den Boden. Sekunden der Stille. Ein kleiner
Ausrutscher, eine kleine Unaufmerksamkeit, die ihr auch Gold bei einer
Olympiateilnahme gekostet hätte. War die Mission nun gefährdet? Angespannt
lag Sie wie ein Käfer auf dem Boden, kein pochender Schmerz. Kurz
kontrollierte Sie alle Körperfunktionen und kam zu dem Schluß das Sie sich
bei dem Sturz nicht ernsthaft verletzt hatte.
Dennoch war der Zeitvorteil dahin. Konnte dieses unbeabsichtigte Geräusch
auf Sie aufmerksam gemacht haben?
Sie musste nun schnell und professionell das Programm abspulen, für das Sie
nahezu 2 Wochen geübt hatte. Drei der Mikrofone waren als Muffen für die
hinter der Holzvertäfelung verlaufenden Wasserleitungen getarnt, sie
entsprachen optisch den bereits dort verwendeten wie ein Ei dem anderen.
Zusätzlich wurden zwei Mikrofone versteckt als zusätzlichen
Verzierungselementen an die über dem Konferenztisch schwebenden Kronleuchter
angeklebt. Die Mikrofone konnten per verschüsseltem Funksignal aus einem
Umkreis von ca. 50m mit jedem handelsüblichen Handy aktiviert und
konfiguriert werden. Gab man die Befehlssequenz zum Start der Aufnahme wurde
automatisch jedes Geräusch verschlüsselt auf dem lokalen Flash-Speicher
geschrieben. Zum Auslesen dieses Speichers musste man sich entweder erneut
Zugang zu den Räumlichkeiten verschaffen oder aber alles zu einem späteren
Zeitpunkt verschlüsselt per Funk übertragen. Die realtime Ãœbertragung
während der Konferenz galt als zu unsicher, da verräterische Funkquellen bei
der obligatorischen Sicherheitsprüfung leicht geortet werden können.
Es war 6:20 Uhr als Jerry bei der Protokollüberprüfung etwas stutzte. Hatte
man die Hochleistungslampen für die zwei Wlan-Beamer für die Projektion von
Informationen während der Konferenz eigentlich schon, wie vor wichtigen
Konferenzen üblich, ausgetauscht? Es waren keine Haken hinter den Lampen für
die Wlan-Beamern auf der Check-Liste. Vor wenigen Jahren gaben beide Lampen
während einer Konferenz gleichzeitig auf. Es wäre ein organisatorisches
Desaster für ihn als Perfektionisten. Da er noch gut eine halbe Stunde Zeit
hatte konnte er der Reklamation des Gastes und die technische Ãœberprüfung
der Geräte in einem Gang erledigen. Er machte sich auf den Weg in das 69.
Stockwerk Flügel F und nahm das Hausfunkgerät mit, um direkt mit der
Rezeption wegen der Reklamation verbunden zu sein.
Mit einer gewissen inneren Genugtuung betrachtete Valerie ihr Werk durch die
engsitzende Nachtsichtbrille. Trotz des Sturzes alles geschafft. Im
Hintergrund blinzelte die frühmorgendliche Skyline von Taipeh durch große
Panoramafenster. Ein letztes Mal noch diese glatte Plattform für eine kleine
Probe nutzen. Sie wollte in der Mitte des Konferenztisches auf den glatten
Sohlen eine Art "Biellmann-Pirouette" ohne Eis drehen. Sie stößt sich mit
einem Bein einige Male kurz ab, um in Rotation zu kommen, und führt dann in
der Rotation ein Bein mit beiden Armen von hinten über den Kopf. In diesem
Moment öffnet sich die Tür zum Konferenzraum.
Jerry öffnete die Tür zum Konferenzraum und suchte zunächst nach dem
Lichtschalter. Er tastete und war etwas irritiert als er auf etwas Weiches
und Gepolstertes berührte. Seine Augen hatten sich noch nicht komplett an
die Dunkelheit gewöhnt, aber er glaubte direkt vor sich zwei grünliche Augen
funkeln zu sehen.
Valerie war überrascht von dem unerwarteten Besuch. Blitzschnell hechtete
Sie lautlos neben die Tür. Jetzt stand ihr ein großer und schwerer Mann
gegenüber und die eigene Prämisse ihrer Jobs - keine Spuren, keine Zeugen
und keine Toten - schien in Gefahr. Ihr blieb keine Wahl, sie musste schnell
handeln. Sie nutzte den Ãœberrauschungmoment und brachte den Mann mit einer
Technik zu Boden. Sie machte eine Art Handstand mit Schwung, nahm den Hals
des Mannes zwischen ihre fitnessgestählten Oberschenkel und presste zu. Nach
einer halben Minute schien der Mann keine Gegenwehr mehr zu zeigen. Sie
überprüfte seine Puls, und stellte fest das er war nur bewusstlos war. Das
war ihre Absicht, denn nach dem Aufwachen würde er sich nicht mehr an die
Minuten vor seiner Bewusstlosigkeit und damit, leider nicht mehr, an sie
erinnern können.
Schnell griff sie das Hausfunkgerät und spielte mit verstellter Stimme eine
besorgte englische Touristin, die einen zusammengebrochenen Mann halb im
Hotelflur entdeckt hätte. Ein Arzt und Sanitäter seien unterwegs, versprach
ihr die Rezeption.
Sie sprintete über den Hotelflur zur Nottreppe. Im Treppenhaus entledigte
sie sich ihrer Arbeitskleidung und ging fünf Stockwerke tiefer. Vor Zimmer
Nr.635 entfaltete sie einen blickdichten und luftdurchlässigen Stoffkoffer
und verstaute alle Ausrüstungsgegenstände darin. Zweimal schaute sie in
beide Richtungen des Hotelflures und konnten niemanden entdecken. Dann stieg
sie selbst in den Stoffkoffer, zog den Koffer von innen zu und ging in die
Embryo-Position. So konnte sie es Stunden aushalten.
Um kurz nach 7:00 Uhr wurde der Koffer vom Hotelservice abgeholt und in der
Hotellobby zu Abholung durch ein Taxiunternehmen bereit gestellt. Der
Taxifahrer brachte den Koffer an eine bestimmte Parkposition am
internationalen Flughafen Taipeh.
Epilog:
Jerry wurde gerettet und organisierte die Konferenz mit Erfolg. Die Wanzen
wurden nicht entdeckt.